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Alfred Deller

Mit seiner überirdisch schönen Stimme ist Alfred Deller der bedeutendste Countertenor aller Zeiten – der zurückhaltende Brite gilt als Wiederentdecker der männlichen Altstimme und ist bis heute einer der faszinierendsten Vertreter dieses Fachs. Oft wird er in einem Atemzug mit Opern-Legenden wie Maria Callas und Enrico Caruso genannt, heute gilt er als großes Vorbild von Generationen jüngerer Counter-Tenöre

Der Apostel Paulus, der mit den Worten „Mulier taceat in ecclesia“ die Frau in der Kirche zum Stillhalten verdonnert, kann nicht ahnen, dass er damit die Kultivierung einer Kunst begünstigt, die vom Standpunkt der rigorosen Geschlechtertrennung aus betrachtet mindestens so unschicklich ist wie eine in den heiligen Hallen der Männlichkeit agierende Frau – den Männergesang in Frauenlage. Doch wie soll man den polyphonen Kirchengesang ohne Frauen bewerkstelligen und wer soll die Sopran- und Altpartien übernehmen? Als Lösung bieten sich die Falsettisten, jenen Männern, die mit „Kopfstimme“ singen und die man heute Counter-Tenöre nennt. So entsteht eine neue Gesangtradition – und in England blüht die Kunst des Falsettsingens auch noch dann, als sie in anderen Ländern längst in Vergessenheit gerät. So erfährt diese Kunst bei ihrer Wiederbelebung in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wichtige Impulse aus Großbritannien.

Als einer ihrer bedeutendsten Protagonisten gilt der am 31. Mai 1912 im englischen Küstenort Margate/Kent geborene Alfred Deller. Zunächst noch mit seinem Knabensopran in der heimatlichen Kirchengemeinde, singt er nach dem Stimmbruch zum Altus entwickelt in den Chören der Canterbury-Kathedrale und der St. Paul-Kathedrale. Eine Radio-Aufführung von Henry Purcells Ode an Queen Mary „Come ye sons of art away“ rückt Alfred Deller 1946 in den Blick der Öffentlichkeit – 1948 gibt er in London die ersten Recitals mit Lautenliedern. Dort gründet er auch 1950 das Deller-Consort – welches die ausgestorbene Kunst des solistisch besetzten Ensemble-Gesangs zu neuem Leben erweckt. Mehr als zwanzig Jahre lang geht das Ensemble auf Tournee und feiert mit seinen Interpretationen der englischen Renaissance-Musik große Erfolge.

Alfred Deller verzichtet Zeit seines Lebens auf Gesangunterricht und auf die „Stimmpflege“ und findet selbst das Einsingen überflüssig. Er beschränkt Proben auf das absolut notwendige Minimum und tut alles spontan und aus innerer Überzeugung. Musik ist ihm auf eine geradezu altmodische Weise heilig, und mit heiligem Ernst betreibt er sie auch. Bis zu seinem Tod spielt Alfred Deller als Solist, Consort-Sänger und Dirigent eine Fülle von Schallplattenaufnahmen ein – von der Gregorianik bis zur Moderne. Was sein Gesang einzigartig macht, ist das individuelle, weiche Timbre, eine fast instrumentale Stimmführung, flexible Phrasierung sowie eine imaginative Nuancierung von Wort und Ton.

Als Opernsänger tritt Alfred Deller kaum in Erscheinung – die Wiedergeburt der Barockoper hatte noch nicht begonnen, und wenn man Händel gab, besetzt man die Kastratenpartien mit Frauen oder schreibt sie für Männerstimmen um. Benjamin Britten – mit dem der Sänger befreundet ist – komponiert für ihn die Partie des „Oberon“ in der Shakespeare-Oper „A Midsummer Night’s Dream“. Er singt sie 1960 in der Uraufführung beim Aldeburgh-Festival – ein Mitschnitt unter der Leitung Benjamin Brittens hält das Ereignis für die Nachwelt fest.

Schon seit den fünfziger Jahren begleiten Alfred Deller im Konzert und bei seinen zahlreichen Schallplattenaufnahmen Musiker wie Nikolaus Harnoncourt, Wieland Kuijken und William Christie.

Der als sehr scheu geltende Alfred Deller meidet die Öffentlichkeit und gibt nur selten Interviews. Er stirbt am 16. Juli 1979 während eines Urlaubs im italienischen Bologna.